Die Zukunft ist gar nicht so Grimm
Lasst uns doch damit aufhören zu sagen, dass die Technologie die ganze Welt herunterzieht und ‚die Jungen‘ immer dümmer und weniger ‚gebildet‘ werden. Wenn Kinder 28 Stunden pro Tag am Smartphone herumspielen und ihr ganzes Leben durch den blassblauen sterilen Bildschirm erfahren, sind wir selber daran Schuld. Wir: Die Menschen, die solchen Kindern voller Vorurteile und Abneigung dabei zugucken, aber doch nichts machen. Wir: Die Menschen, die daran glauben, dass die Kultur uns mehr bieten kann, als Pop-up Werbung und schizophrene Hyperlink-Forschung in dem enormen Labyrinth des Wikipedias. Wir: Die Menschen, die davon ausgehen, dass die Kunst zu besonders und kultiviert ist, um sie mit den ‚Anderen‘ zu teilen - wir sind die Idioten. Wenn ihr daran glaubt, dass die klassische Musik, die Oper oder das Theater ihre Sternstunden schon hatten, dass das junge Publikum nicht mehr anzulocken ist, dass keiner sich mehr interessiert – wenn ich es nicht streamen kann, werde ich es auch nicht gucken – dann hättet ihr da sein müssen bei der Aufführung der Oper „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdink am 29. Januar 2017 in der Gaußstraße.
Trotz der Absurdität seines Namens ist die Musik sowie die Oper von Engelbert Humperdink wirklich sehr anspruchsvoll - wunderschöne Klänge der Spätromantik, die fast so wie Wagner an einem seiner weniger selbstsüchtigen, pathos-bewaffneten, ego-manischen Tage klingen könnte. Bei dieser Aufführung in der Konzertreihe der Hochschule „Opera Concisa“ hören wir eine gekürzte Fassung der Oper, die sehr gelungen ist. Die Inszenierung ist schlicht, bunt und nicht ständig damit beschäftigt, bewusst anders zu wirken. Sie ist ehrlich, authentisch und nuanciert genug, ihren eigenen Charakter zu haben. Die Sänger treffen alle ihre Töne mit Überzeugung und Sicherheit. Also, was an dieser Produktion ist so besonders? Töne treffen und gute Inszenierungen hat man auch in der Staatsoper. Ja, und doch Nein. Als ich den Raum, der in seiner Unauffälligkeit wiederrum fast auffällig war, betrat, fiel mir als erstes auf, dass auf der Bühne zwei Gruppen von jeweils zehn Kindern (und darunter ein paar Erwachsene) saßen. Sie saßen auf Kissen, sie saßen bereit. Bei jeder Gruppe waren auch zwei kostümierte Figuren (die sich später als Hänsel und Gretel bekannt machten), die mit den Kindern gespielt haben. Langsam, scheinbar aus dem Nichts fängt die Musik an, von zwei Pianisten an zwei Flügeln gespielt (eine Bearbeitung der originalen Partitur für Orchester). Die Musik macht sich langsam auf den Weg zum Publikum, die zwei Figuren fangen an zu singen und dann auf einmal ist es geschehen: Die Magie entsteht! Die Kinder waren erfasst von dem Geschehen vor ihren Augen, von den Farben, den Klängen, der Bewegung, von dem DRAMA! Weil das alles ist, was die Kunst sein kann: pures Drama. Drama, das mit Netflix und allen Mengen an Explosionen im Kino ohne Probleme konkurrieren kann, das uns erfassen kann, würden wir uns nur genauso offen der Aufführung gegenüber halten wie ein Kind. Als ich die Kinder dabei angeguckt habe, wie sie lachten, tanzten und die Oper wirklich erlebten, wurde ich vom Konzert auf eine Art und Weise berührt, so wie ich lange nicht mehr im Konzert war. Sicher war für mich ein Highlight das kleine Mädchen, das völlig irritiert aufstand, nachdem eine Requisite auf der Bühne in ihr Sichtfeld gestellt wurde, demonstrativ ihr Kissen nach links schob, sich wieder hinsaß und jetzt endlich zufrieden gestellt, die Oper weiter konsumieren konnte.
Die Energie und der Fokus der Kinder waren in dem Raum fast tastbar und die hatten auf uns ‚nicht –Kinder‘ auch eine Auswirkung. Ich konnte nichts anderes machen, als genauso mitgerissen werden wie die Kinder. Die Figuren der Eltern dienten auch zum Teil als eine etwas erwachsenere Thematik: Die überhebliche Mutter, die ihre Kinder vielleicht ein bisschen zu gerne peitscht und der besoffene Vater, der scheinbar gut gelaunt war, aber doch immer kurz davor war, die Mutter zu schlagen. Genauso hat die Hexe mich beunruhigt, wie sie die Kinder angefasst hat – sexuell und gierig – mehr wie begrapschen als anfassen. Kleine subtile Details, die die Aufführung mehrschichtig gemacht haben. Die Produktion war nicht ganz ohne Probleme, aber die Probleme waren eher logistisch und nicht künstlerisch. Während des ganzen Trubels hätte ich mir gewünscht, dass Hänsel und Gretel sich manchmal mehr Zeit genommen hätten, kurz still zu bleiben, um besser auf die Stütze achten zu können. Es gab auch einen Moment, wo die Kinder zum Tanzen gebracht wurden, aber dann nicht mehr so richtig miteinbezogen wurden und ein bisschen ahnungslos auf der Bühne standen. Aber es hatte der Aufführung nicht geschadet und insofern war es mir in dem Moment völlig egal.
Nach der Aufführung schien es mir zu sein, dass die Kinder uns bloßgestellt haben (wie sie es irgendwie so häufig machen.) Da saßen sie und genossen, trotz unserer ganzen Theorien über das Verschwinden der klassischen Musik und der furchtbar genannten ‚uninteressierten jungen Generation‘. Die Kinder haben mir gezeigt, dass ich vergessen habe, wie schön pures Drama sein kann. Dass wir nicht alles gleich zur Allegorie für die Katastrophen der Welt machen müssen. Wir müssen nicht ‚Don Giovanni‘ nackt in einer Tiefgarage inszenieren als Metapher für die Flüchtlingskrise und die Unterdrückung eines Volkes in einem totalitären Regime. Ganz im Gegenteil! Wir sollen uns endlich daran erinnern, dass die Kunst ein zweites, genauso wichtiges Bedürfnis erfüllen kann: Sie kann uns Hoffnung und Fantasie anbieten, alle schmerzhaften Realitäten des Lebens zum Trotz. Die Kunst kann also ein Moment sein, der uns zusammenbringt, in dem wir das reizvolle Drama einer Fiktion, die nichts mit dem grausamen Alltag zu tun hat, zusammen erleben. Wage ich mir das zu sagen? Doch…die Kunst kann uns auch Unterhalten – Sie muss uns nicht immer die Philosophie eines besseren Lebens lehren wollen. Jetzt ist es raus! Und darin liegt die wahre Magie dieser Aufführung: Es wird dich daran erinnern, wie die Kunst sein kann – lustig, unterhaltsam, bezaubernd und für jeden Menschen, jeden Alters.
Es wird immer eine millionen Gründe geben, warum wir es nicht schaffen, ins Konzert zu gehen, um uns Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdink anzugucken – lasst uns doch lieber darauf konzentrieren, warum wir es machen sollten.